Welche wirtschaftlichen Chancen könnte die Ansiedlung einer neuen Art der Lebensmittelproduktion für ein landwirtschaftlich geprägtes Bundesland wie Niedersachsen haben? Ergeben sich sogar Chancen für die Region durch eine Technologie, mit der unter anderem Milchprodukte erzeugt werden sollen?
Dieser Frage ging Ende vergangenen Jahres eine von der Landesinitiative Ernährungswirtschaft Niedersachsen (LI Food) vorgestellte und von der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e.V. (DECHEMA) erstellte Studie nach. Sie beschäftigt sich mit dem Potential der sogenannten Präzisionsfermentation.
Was ist Präzisionsfermentation?
Unter Präzisionsfermentation versteht man die "gezielte biotechnologische Herstellung einzelner Lebensmittelzutaten und -bestandteile wie Proteine oder Lipide". Diese und weitere Produkte lassen sich mithilfe "optimierter Produktionsorganismen (z.B. Hefen oder Bakterien) im Bioreaktor" so herstellen, dass sie in ihrer chemischen Struktur und ihren Eigenschaften identisch mit solchen aus tierischen Quellen sind.
Im Unterschied zur Präzisionsfermentation gibt es außerdem die vom Prozess her einfachere Biomasse-Fermentation, die auch für Agrar- und Ernährungsbetriebe interessant werden könnte. (top agrar sprach darüber mit einem Wissenschaftler hier.)
Nicht Vollmilch ersetzen, sondern Casein herstellen
Dabei gehe es bei der Präzisionsfermentation nicht darum, natürliche Produkte wie Vollmilch oder Vollei zu ersetzen. Die Technologie sei "vor allem dort sinnvoll und in realistischen Zeiträumen wettbewerbsfähig, wo es um einzelne Bestandteile wie Casein, Albumin, Ovalbumin, bestimmte Fette oder andere funktionale Substanzen geht, die aus den Naturprodukten sonst aufwendig isoliert werden müssen."
Studienergebnisse im Überblick
Welche Überlegungen gibt es also zur Etablierung einer biotechnologischen Herstellung von Lebensmitteln in Niedersachsen? Die Studienergebnisse im Kurzüberblick:
Herstellbare Proteine (besonders Milch- und Eiproteine sowie Kollagen) sowie (tierische) Lipide und Häm-Proteine haben ein hohes Potenzial für Anwendungen in Lebensmitteln: Sie können den Studienmachern zufolge tierische Zutaten ersetzen, ohne dass es dabei zu Einbußen bei Funktionalität, Textur oder Mundgefühl kommt.
Um eine Präzisionsfermentationsindustrie aufzubauen und zu betreiben, bedarf es neben den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten vor allem einer gesicherten Rohstoffbasis sowie Anlagen, die für die Produktion von Lebensmitteln geeignet sind. Niedersachsen sei hier hinsichtlich der Rohstoffe als starkes Agrarland mit einer großen Zucker- und Stärkeindustrie hervorragend aufgestellt.
Rentabel und gleichzeitig nachhaltig betrieben werden könne Präzisionsfermentation nur mit erneuerbarer Energien. Niedersachsen verfüge auch hier über sehr gute Voraussetzungen.
Woran es wie überall fehlt, sind geeignete Anlagenkapazitäten vom Pilot- bis in den Produktionsmaßstab. Für ihren Aufbau müsse öffentliches und privates Kapital mobilisiert werden, was durch Modelle wie Reallabore oder öffentlich zugängliche Demonstrationsanlagen erleichtert werden könne, fordert die Studie.
Für die Vermarktung von Produkten der Präzisionsfermentation ist die Zusammenarbeit mit der verarbeitenden Industrie nötig. Sehr häufig werden erforderliche Prozesse von Start-ups entwickelt, die mit etablierten Unternehmen der nachgelagerten Wertschöpfungskette kooperieren. Mit seiner innovativen Lebensmittelbranche biete Niedersachsen dafür gute Voraussetzungen.
Zu den Vorteilen der Präzisionsfermentation, gehören die Nachhaltigkeit, Effizienz und Flexibilität der Verfahren sowie das hohe Innovationspotenzial; dem stehen jedoch Nachteile hinsichtlich der regulatorischen Rahmenbedingungen und der Produktionskosten entgegen.
Hinsichtlich der Verbraucherakzeptanz formuliert die Studie vorsichtig "positive Indizien"; dennoch sei für eine erfolgreiche Einführung von Produkten aus Präzisionsfermentation eine offene Kommunikation und Information ein wesentlicher Faktor.
Landwirtschaft und Präzisionsfermentation müssten zusammenarbeiten
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass konventionelle Landwirtschaft und Präzisionsfermentation sich gegenseitig nicht ausschließen. Vielmehr sollten sich die handelnden Akteure Niedersachsens fragen, welche Rolle können beide Seiten einnehmen könnten, "um im Zusammenspiel den Standort zu sichern und zu stärken, Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und Wertschöpfung zu halten und auszubauen“.